In Baku, direkt am Kaspischen Meer und gleich neben dem Flaggenplatz entsteht die Crystall Hall. Dort soll der ESC 2012 stattfinden und 25.000 Zuschauern Platz bieten. Darüber weht die Flagge von Aserbaidschan – eine Flagge der Superlative. Sie ist die größte der Welt – ihr Mast war der höchste der Welt, bis vor einem Jahr Turkmenistan, gleich auf den gegenüberliegenden Seite des Kaspischen Meeres gelegen, diesen Rekord überbot. Auf der Suche nach neuen Superlativen soll jetzt in Baku das höchste Gebäude der Welt entstehen: Einen ganzen Kilometer hoch wird es das Kaspischen Meer überragen.
Im Wettlauf um neue Rekorde und Zuschauer aus aller Welt muss die örtliche Bevölkerung leiden. Westliche Medien wie der FOCUS, Die ZEIT und das Kulturmagazin ttt der ARD berichten von mehreren tausend Bewohnern, die ihre Bleibe verlieren. Videos auf Youtube zeigen Bilder. Ist es der ESC, der sie aus ihren Häusern vertreibt? Es könnte sein, aber es muss nicht so sein. Denn Teile der Altstadt von Baku sind noch in einem armseligen Zustand: die Straßen haben tiefe Löcher, die hygienischen Bedingungen entsprechen ganz und gar nicht dem heutigen Stand. Wer hier Fotos macht, zieht böse Blicke auf sich. Wer in diesen Häusern wohnt, lebt nicht gerne hier. Besucher kommen in diese Gegend nur selten. Aber jeder, der Baku besucht, kann sich davon ein Bild machen: Sobald er die großen Straßen verlässt und südlich von Bahnhof durch die Gassen läuft.
Der üble Zustand in einigen Teile ist nicht wirklich erstaunlich, denn erst seit 2007 kommen Petrodollars ins Land und füllen die Kassen des kleinen Kaukasuslandes, erst, seitdem neue Pipelines die westlichen Märkte erreichen. Mit ihnen wird die Stadt Baku, ja der ganze Staat modernisiert.
Die Stadtsanierung ist sicher wichtig. Aber wenn der anstehende ESC 2012 in Baku die Bewohner aus ihren Häusern treibt, weil Eile geboten ist, dann ist das höchst bedauerlich und grausam. Hinzu kommt das alte Dilemma, das typische in all den Ländern, die sich im Übergang vom alten Sozialismus zur Marktwirtschaft befinden. Die Bewohnern und Eigentümer haben oft keine Papiere über ihr Eigentum, keine Nachweise über den Wert und über die Konditionen, zu denen sie ihre Wohnungen erworben haben. Es gibt keine zentralen Ämter und oft nicht einmal ein Verständnis für die Eigentumsverhältnisse und die damit verbundenen Fragen. All diese Fragen stellten sich zu sowjetischen Zeiten nicht. Dem Staat gehörte alles.
Wohnraum gibt es genug, und zahlreiche frisch gebaute Hochhäuser stehen noch leer. Was geschieht also mit den vertriebenen Bewohnern? Erhalten sie eine Entschädigung? Können die sich damit eine neue Wohnung leisten? Unterstützt sie der Staat, wenn sie ein neues Leben in neuer Umgebung anfangen müssen? Sind sie Verlierer der Transformation ihres Staates auf dem Weg zu einem neuen Wirtschaftssystem? Oder treibt der ESC 2012 sie noch tiefer ins Elend? Es ist wichtig, hier viele Fragen zu stellen!