Als sich Europa im März 2020 bereits im Krisentaumel befand, herrschte in Zentralasien noch trügerische Ruhe. Für die krisenerprobte Region schien die neue Lungenkrankheit kein wirkliches Thema zu sein. Offiziell gab es keine „Fälle“, keine erkrankten Menschen.
Es handelte sich nur um ein Virus, wenn auch fremd und – vermeintlich – aggressiv.
Kirgisistan mit seinen 6,5 Millionen Einwohnern hatte seine Grenzen zum chinesischen Nachbarn schon mal vorsorglich bereits Ende Januar geschlossen. Alles weitere würde sich mit der Zeit zeigen.
Als das Virus Ende März bei Einreisenden auf dem Flughafen der Hauptstadt Bischkek erstmalig nachgewiesen wurde, reagierten die Behörden umgehend mit einem strengen landesweiten Lock-down. Wie in Europa begannen die Menschen mit dem Austausch von kleinen Anekdoten über die Quarantäne und diverse Absurditäten in der neuen Lebenslage. Die Älteren unter ihnen erinnerten sich im Stillen an andere Zeiten und Formen des Ausnahmezustands.
So etwas hatte man selbst in Kirgistan noch nicht erlebt. Sie kämpften gegen einen nicht greifbaren Feind. In der schönsten Jahreszeit sollten sie zu Hause bleiben, dem unsichtbaren Gegner trotzen und dabei – als wär das allein nicht schon genug – kein Geld verdienen können.
Die Angst war nicht konkret, die Furcht schon.
Was würde der Sommer bringen? Keine Touristen und keine neuen Gäste – so viel stand fest. In den letzten Jahren war das kleine, bildschöne Hochgebirgsland zu einem Geheimtipp bei Backpackern, Abenteurern und reisenden Romantikern aus aller Welt avanciert. Freiheit, Natur und Tiere – und freundliche Kirgistaner. Die Unterkünfte waren für die Saison 2020 gut ausgebucht.
Und was würde erst im Herbst sein oder gar im Winter?
Fast die Hälfte der kirgisischen Bevölkerung in arbeitsfähigen Alter verdiente bis zur Pandemie ihr Geld im Ausland, hauptsächlich in Russland. Auch diese Arbeitsmigranten waren von der Pandemie betroffen, sie würden ihre Arbeit verlieren, weil die Grenzen geschlossen wären, und entsprechend weniger finanzielle Unterstützung würde nach Kirgistan fließen.
Ende Mai dann kam die die gute Nachricht: der Lock-down endete. Endlich die verlorenen zwei Monate nachholen, was sich nachzuholen lies. Und vor allem: Schnell wieder Geld verdienen. Zurück zur Normalität. Geliehenes Geld zurückzahlen. Wieder in den Kleinbus steigen, auf den Markt fahren. Verkaufen, einkaufen, austauschen. Leben. Sich wieder begegnen, wo auch immer.
Acht Wochen der Isolation waren genug. Man hatte für das unsichtbare Problem schon genug bezahlt. Die Bilder aus Italien, aus New York und anderen Hot Spots der Welt schienen ganz vergessen. Es ging um das Hier und Jetzt. Das Leben sollte weiter gehen.
Es dauerte signifikante zwei Wochen.
Während sich in den zentralasiatischen Nachbarländern eine Invasion von Heuschrecken auf den Weg machte, brach sich in Kirgistan die Pandemie unvermittelt Bann.
Seit Mitte Juni steigt die Zahl der an COVID-19 und dem Coronavirus verbundenen atypischen Pneumonie-Erkrankten permanent dramatisch an. In dem kleinen Land mit nur 6,5 Millionen Einwohnern gibt es täglich bis zu 1000 neuer Fälle von COVID-19 und damit verbundenen, atypischen Lungenentzündungen, täglich bis zu 80 Todesopfern – eine unvergleichliche Katastrophe!
Die Realität sieht seit mehr als drei Wochen jetzt so aus: Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Ärztinnen und Ärzte sowie das übrige
medizinisches Personal erschöpft und selbst an COVID-19 erkrankt
oder bereits verstorben.
Seit der Beginn der Pandemie sind von rund 30.000 an COVID-erkrankt, davon
rund 2.500 Ärzte und medizinisches Personal. 1123 Menschen sind an dem Virus verstorben.
Am 22. Juli 2020 infizierten sich offiziell 1123 Kirgistaner, 44 starben allein an einem Tag am Virus.
Hotels, Restaurants oder Schulen wurden provisorisch zu medizinischen Notfallzentren umgebaut. Krankenhäuser und Apotheken sind überfordert u.a. auch dadurch,
dass Medikamente fehlen. Wie überall – und doch ganz anders!
Ja, es ist Pandemie. Ja die ganze Welt ist im Ausnahmezustand und in vielen Weltgegenden sieht es so ähnlich aus wie in Kirgistan.
Aber angesichts der geringen Bevölkerungszahl hält Kirgistan laut der New York Times aktuell den Weltrekord bei den Neuerkrankten und Toten.
Die Menschen in Kirgistan brauchen dringend Medikamente, Sauerstoff- und Beatmungsgeräte, Schutzanzüge, qualitative Labortests, mobile Röntgengeräte. Die Menschen brauchen dringend den Beistand und die Unterstützung der Weltöffentlichkeit.
Das kleine Land darf nicht vergessen werden, nur weil die Menschen dort nicht mehr die Kraft haben ihre Stimme zu erheben.
Maren Ernst. Uplift-Aufwind e.V. – 22. Juli 2020
www.uplift-aufwind.org
und Birgit Wetzel