Beobachter im Ausland waren ebenso schockiert wie die Kasachstaner. Autos brannten, Polizeistationen wurden überfallen, Flughäfen besetzt. Es waren kalte Tage im Januar 2022. Doch tausende Menschen gingen in vielen Städten Kasachstans stunden- und tagelang auf die Straßen. Über 200 mussten ihr dabei Leben lassen. Angefangen hatte alles im Westen des Landes. Ein gewaltiger Anstieg der Preise für Benzin setzte Massendemonstrationen in Gang. Am dritten Tag sprang der Funke über in den Osten, in das über 3000 km entfernte Almaty, die intellektuelle Haupstadt des Landes. Tagelang dauerten die Proteste. Zuverlässige Informationen gab es kaum. Das Internet war stundenlang abgeschaltet. Ruhe kehrte erst ein, als die zur Hilfe gerufenen Nachbarn für Ruhe sorgten.
Auf einer Pressereise Anfang Mai konnte ich mir bei einem Besuch in Nur Sultan, ex Astana, ein Bild von den Ereignissen machen: Durch Bilder und viele Gespräche mit Akteuren, Abgeordneten, Staatsanwaltschaft und Menschenrechtlern.
Jetzt und seit mehreren Wochen klärt Kasachstan auf. Es waren vielschichtige Proteste, so viel ist schon klar. Der Auslöser ist klar, ebenso wie das Ende der Proteste. Aber die Tage dazwischen werden Menschenrechtler, Staatsanwälte und Verteidiger noch Wochen beschäftigen.
Offenkundig waren unterschiedliche Gruppen an dem Geschehen beteiligt. Es scheint, dass einzelne Interessengruppen die anfangs friedlichen Proteste zum Anlass nahmen, um ihren Interessen organisiert, bewaffnet und gewalttätig Ausdruck zu geben und stellenweise die Macht an sich zu reissen. Waren es von Oligarchen organisierte Trupps? Waren es religiöse Extremisten? Waren es außerstaatliche Akteure? Und dann, in der dritten Phase, kamen Menschen aus der Gesellschaft dazu, die mit ihren Lebensumständen nicht zufrieden waren, junge und ältere, und auch Menschen vom Land, die extra in die Städte gekommen waren.
Sorge bereitet, dass noch viele Waffen im Umlauf sind. Wer hat sie jetzt in den Händen? Rund 2000 Waffen fehlen aus den früheren Beständen der Polizei.
Zwar dauert die Aufarbeitung noch an, und das wird dauern: Bilder von Straßenkämpfen, Kameras aus den Straßen, Videos privater Personen werden ausgewertet. Aber Prozesse haben bereits begonnen. Die Menscherechtsbeauftragte und frühere stellvertretende Justizministerin Elvira AZIMOVA spricht von vielen Prozessen, die noch zu führen seien. Die Ermittlungen seien noch unzureichend, deshalb sei sie viel im Land unterwegs und spreche mit Betroffenen.
Die Regierung in Kasachstan hat aus den gewaltsamen und tragischen Tagen im Januar deutliche Schlüsse gezogen: Es muss sich einiges Ändern im Land. Die Sozialgesetze, bereits vor dem Januar auf dem Weg, müssen viel schneller und weitaus umfangreicher kommen. Und dazu weitere Reformen in Politik und Wirtschaft. Am 16. März stellte Präsident Kassym-Jomart Tokayev die ersten Änderungen vor, weitere finden sich in den Vorlagen für das Referendum am 5. Juni 2022:
- Dezentralisierung
- Der Präsident wird Entscheidungsbefugnisse an das Parlament abgeben
- Die Schwelle zur Gründung neuer Parteien sinkt deutlich
- Die Wirtschaft soll jetzt allen dienen, nicht nur wenigen
Am 5. Juni wird in Kasachstan ein Referendum abgehalten.
Die Kasachstaner werden über die Reformen abstimmen. 30 Jahre ist Kasachstan jetzt unabhängig. Kasachstan ändert jetzt 1/3 seiner Verfassung und schaffe “eine neue politische Kultur” , wie Erlan Karin, State Secretary der Republik Kasachstan, feststellt, ein neues Kasachstan.