In der Fremde zu Hause – Auslandsjahr für Schüler

 

Wer sich im Alter von 15 bis 17 Jahren für ein Schuljahr bei einer Gastfamilie im Ausland bewirbt, der ahnt nicht, welches Abenteuer ihn erwartetet,  und wie lange die Lernerfahrungen aus dem Jahr ihn durch das Leben begleiten werden.

So geht es auch Derya, Hendrik und Mario:

„Als ich mich beworben habe, da habe gar keine Erwartungen gehabt, außer ein schönes Jahr erleben. Aber dann, als ich genommen wurde, oder als wir den großen Lebenslauf schreiben mussten, da habe ich mir Gedanken gemacht….“

„Also ich hab’ gedacht, wenn´s klappt, dann klappt´s, und wenn nicht, dann nicht. Außerdem ist es gut für das Studium….“

„ Ich denke, es ist ein Schritt von den Eltern weg, weil man sich ein Jahr bei einer Familie zurechtfinden muss, allein alles regeln muss.“

Einig sind sich die drei, das dort alles ganz anders wird als hier.

Die Erfahrungen, die sie während ihres Austauschjahres machen, werden sie in vielfältiger Weise das ganze Leben lang begleiten.  Neue Forschungen aus den USA und Deutschland belegen dies: in über  14 Jahren befragten zwei  Psychologen mehr als 1000 ehemalige Austauschschüler, wie die dort gemachten Erfahrungen ihr weiteres Leben beeinflusst hat. Für fast alle Befragten, ob sie nun in den 50-er, 60-er, 70-er  oder 80-er Jahren im Ausland waren, war das Austauschjahr ein überaus wichtiges Ereignis.  Es hat  nicht nur ihre berufliche Laufbahn, sondern ihr tägliches Handeln bis heute beeinflusst – so David Bachner, Professor für Global Studies am Hartwick College, New York, durch

„Offenheit, Toleranz von Unterschieden, Respekt vor anderen Kulturen, gute  Kommunikationsfähigkeit,Zurückhaltung vor schnellen Urteilen über andere Kulturen. Das waren auffallende Veränderungen …

Außerdem zeigte sich bei allen ein besonderes Verantwortungsgefühl für gesellschaftliche Belange,  ein Sinn für ihre eigenen Führungsqualitäten,  und viele haben sich in dem Austauschjahr Gedanken über ihre Zukunft gemacht. Viele haben angefangen, sich für internationale Angelegenheiten zu interessieren, nicht speziell, aber als eine generelle Richtung.“

Wie kommt es dazu? Wer allein in eine fremde Kultur  hineingeworfen wird, und dort ein ganzes Jahr bleiben will, der muss viel lernen.  Die tägliche Konfrontation mit dem Fremden kennzeichnet die erste Zeit – ein zähes Ringen um Verständnis und Verständigung. Die Sprache ist dabei nicht die einzige Hürde. Vielmehr geht es auch um Bedeutungen des Gesagten, um Gestik und Mimik, um alltägliche Gewohnheiten und Gepflogenheiten.

Karin Zahlten, Lehrerin und seit vielen Jahren im Schüleraustausch aktiv, beschreibt das so:

„Wenn man den Austausch macht, und in ein fremdes Land geht, merkt man Dinge, die man sonst sicher erst einmal abgestritten hätte, nämlich zum Beispiel die Frage, in wie weit man kulturell geprägt ist. Das würde man vielleicht pauschal mit ja beantworten. Wenn man aber sagen sollte, in welchen Mustern läuft der Alltag in Deutschland ab, würde man wahrscheinlich gar nicht sagen, das man Muster vorfindet. …Und das geht von kleinen Dingen über große Dinge, dass man plötzlich merkt: ah ja, ich habe gelernt, bestimmte Dinge immer in einem festen Rahmen zu machen“

Das Gastland, für das sich ein Kandidat entscheidet, ist unerheblich für den Erfolg des Jahres.  Wichtiger ist der richtige Zeitpunkt für die persönliche Situation des Bewerbers und die wirkliche Bereitschaft, sich für ein Jahr auf einen Kulturwechsel einzulassen.

Wer im Land seiner Wahl die Gastfamilie erreicht hat, beginnt einen langen  Lernprozess.  Schritt für Schritt erkundet er die Fremde. Doch nicht nur die Fremde, auch sein eigenes Land nimmt  Konturen an, die er zuvor nie erkannt hat.

David Bachner weiß:

„Es ist ein weites Gebiet, sich selbst, seine eigene Kultur und dann auch noch die des Gastlandes zu verstehen…man muss sich da mit ziemlich philosophischen Fragen beschäftigen, zum Beispiel mit den Grundgedanken der Demokratie und Wertvorstellungen.“

Das anfangs Fremde wird bald bekannt – manches akzeptiert und anderes  abgelehnt.  Schließlich beginnt die Phase der Anpassung, die idealer Weise bis hin zur Übernahme von Werten und Verhaltensweisen führt, für ein Jahr jedenfalls.

Der Perspektivenwechsel dann ist geschafft. Der einst Kulturfremde hat gelernt, mit den Augen des anderen zu sehen. Dieser Lernprozess ist ein überaus prägendes Erlebnis. Wer ihn zu früh unterbricht, bevor der Perspektivenwechsel stattgefunden hat, dem entgeht eine wesentliche, wenn nicht gar die entscheidende Etappe. Diese Kurzzeitprogramme führen leicht zu einer  Festigung von Vorurteilen, statt zu mehr Verständnis des Gastlandes.

Die neu erworbenen Fähigkeiten werden auf die Probe gestellt, sobald der frisch Integrierte seine eigene Heimat wieder erreicht. Die veränderte Wahrnehmung  der bekannten Umgebung, der Menschen, ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten, alles wird erneut überprüft, denn das Bild scheint verzerrt. Zwei Jahre kann diese Rückanpassung dauern. Gute Schüleraustauschprogramme begleiten ihre Schützlinge dabei und laden sie etwa sechs Wochen nach der Rückkehr zu  Seminaren ein. Dort treffen sich Gleichgesinnte, um über die Erfahrungen zu sprechen und nachzudenken. Zusammen mit Ehemaligen der Organisationen wird überlegt, wie man die neuen Erkenntnisse sinnvoll nutzt  und wie sie für andere nutzbar gemacht werden können. Diese Nachbereitung ist ein wesentlichen Teil der Austauscherfahrung, der zugleich bei Verarbeitung des Erlebten hilft.

Stück für Stück , gleichsam wie ein Puzzle, baut sich eine neue Sicht auf.  Aus der Betrachtung aller Dinge  aus der heimischen Perspektive  wird eine interkulturelle Sicht der Welt . Bachner stellt fest:„Die Zahl dieser Leute wächst,  und sie setzen sich miteinander in Verbindung,  auf der  Basis eines fundamental gleichen Erlebnisses. Es ist fast wie eine neue Kultur. Die Auswirkungen gehen weiter durch das ganze Leben. Und jeder von uns, der diese Erfahrung hat, trägt sie mit sich und bemüht sich ständig weiter, sie zu verstehen.“

Gutes davon hat nicht nur der Austauschschüler, sondern  auch,  sogar in besonderem Maße, die Gesellschaft. 

Die Vergleichsstudie von Bachner und Zeutschel über Austauschschüler in 4 Jahrzehnten zeigt das deutlich. Jeweils zwei Personen mit ähnlicher Herkunft, gleichem Geschlecht, gleichem Alter und gleicher  Schulbildung hat man zu ihrem beruflichen und privaten Werdegang befragt. Dabei zeigten sich deutlich die Fähigkeiten und Neigungen, die in dem Austauschjahr  erworben werden:

  • Selbstvertrauen – erworben in dem Anpassungsprozess, in dem man ganz auf sich gestellt war,
  • Methoden zur Bewältigung von Krisen – angefangen von sprachlichen Schwierigkeiten bis zu allgemeinen Situationen – hier sind insbesondere die ersten Monate in der fremden Umgebung ein Dauertraining,
  • Fähigkeiten zur Mediation einhergehend mit großem Einfühlungsvermögen.
  • Die  Wertschätzung anderer  Kulturen und Standpunkte,
  • erhöhtes Interesse an Politik und  allgemein eine große Einsatzbereitschaft für gesellschaftliche Belange setzen den Katalog der positiven Lernerfahrungen  fort.

Was sie erfahren haben, geben die Kulturwechsler an Personen aus dem Umfeld weiter, an die Familie, an Freunde und im Beruf. Viele ehemalige Austauschschüler treffen wir heute im Bundestag an, unter die jüngste Bundestagsabgeordnete, die 19-jährige Anna Lühdemann.

An ihrem Gastland haben viele Schüler auch weiter großes Interesse. Werden sie älter, erweitern berufliche und finanzielle Möglichkeiten das Interesse, das sich von der bilateralen auf eine multinationale Ebene verlagert. Die globale Orientierung geben sie auch an die Umgebung weiter, und nicht selten arbeiten sie in internationalen Organisationen.

Die Einstellungs-, Verhaltens- und Wissensveränderung zeigt sich deutlich. Unter all den Möglichkeiten, die sich einem Jugendlichen bieten, haben die ganzjährigen Aufenthalte in Gastfamilien anderer Kulturen die nachhaltigsten Lerneffekte.

Ihre Potentiale sollten genutzt werden,  wo immer sich  Möglichkeiten dazu auftun. Ulrich Zahlten,  Richter  und langjähriger Vorsitzender eines Jahresschüler-Austauschprogramms meint dazu:

„Ich denke wir brauchen in der heutigen Welt einfach mehr Menschen die wirklich verstehen, was es heißt, das es immer noch kulturelle Grenzen und Abgrenzungen gibt, und das wir andererseits unter dem Stichwort Globalisierung, unter dem Stichwort lebenslanges Lernen, unter dem Stichwort Migration in der Lage sein müssen, mit Angehörigen anderer Kulturen wirklich sinnvoll zusammen zu arbeiten und gemeinsamen Grund zu finden.

Ich finde, die Basis dafür wird am Besten in einem Alter gelegt, in dem man noch jung genug ist, den totalen Übergang in eine andere Kultur zu schaffen,…und gleichzeitig schon alt genug, um wirklich wahrzunehmen, was in einem vorgeht.“

Experten halten übrigens eine  Teilnahme an Austauschprogrammen mit osteuropäischen Ländern für besonders empfehlenswert. Hier handelt es sich derzeit eher um eine Einbahnstraße. Denn noch kommen wesentlich mehr Schülerinnen und Schüler aus solchen Ländern zu uns, als Deutsche dorthin gehen.

Eine Teilnahme an Austauschprogrammen mit einem dieser Länder nicht nur generell wichtige neue Kenntnisse und Einsichten, sondern möglicherweise auch schon Verwertbares für einen späteren Berufsweg.

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