Welch ein Abend! Ein voller Saal im Köber-Forum erwartete Irina Scherbakova, die in diesem Jahr den Friedensnobelpreis erhalten wird, zusammen mit einer NGO aus der Ukraine. Die Russin, Mitbegründering der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, erklärte und diskutierte über den Krieg in der Ukraine, die Entwicklungen in Russland seit den 90-er Jahren, und die Kultur der Erinnerung. Mit ihr kam Prof. Volkhard Knigge, jahrelanger Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora.
MEMORIAL ist heute in Russland verboten. 30 Jahre sind seit der Gründung vergangen. Mit der NGO sollte eine Erinnerungskultur ins Leben gerufen werden. Seine Geschichte überliefern und aufarbeiten, das war der zentale Gedanke. Jedes Jahr gab es Wettbewerbe für Schüler, damit sie ihre eigene Geschichte bzw die ihrer Familie und ihres Landes kennen lernen – nicht aus Büchern, die oft politische Schattierungen tragen, aber aus eigener Erfahrung in der Familie.
In fließendem Deutsch sprach Scharbakova über die Situation in Russland und den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Die Worte waren nüchtern betrachtend, aber aus jeden Satz klangen die Tragik und der Schmerz, die dieser Krieg ausgelöst hat.
Kam er überraschend? Nein, sagt Scherbakova, es gab Anzeichen, lange bevor der Krieg entbrannte. Kipp-Punkte der russischen Politik gab es 2003, 2008, 2012, 2014. Die Feiern am 9. Mai, die Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, wurden zunehmend kriegerisch, statt an den Frieden zu erinnern. Im Juli 2021 erschien ein Aufsatz von Vladimir Putin, der deutliche Signale gab – aber sie wurden nicht erkannt: der Ukraine sprach er die kulturelle Eigenständigkeit und die staatliche Identität ab.
Zur Stimmung in der Gesellschaft befragt, erklärte Scherbakova: Als der Krieg in der Ukraine begann, verstand man in Russland, dass etwas “ganz Schreckliches” angefangen hatte. Menschen gingen auf die Straße, aber es waren zu wenige. Die Propaganda wirkte. Man hoffte, der Krieg werde schnell zu Ende sein. Es war eine ganz andere Reaktion als bei der Annektion der Krim. Als klar war, dass der Krieg lange dauern würde, kippte die Stimmung in Russland. Spätestens mit der Mobilmachung war allen klar, was in der Ukraine vor sich ging.
Umfragen heute ergäben, soweit man ihnen trauen kann, dass über 50 Prozent der Menschen in Russland den Frieden wollen. Und das, obwohl alle unabhängigen Medien geschlossen sind.
“Die Ukraine muss den Krieg gewinnen” war auch hier die klare Aussage. Es ginge um das Zukunftsprojekt Europa. Und dann müsse alles aufgeklärt werden. Russland könne sich nicht aus der moralischen, wirtschaftlichen und politischen Verantwortung für diese Katastrophe herauswinden. Alle Verbrechen müssten aufgeklärt werden. Erst nach Jahrzehnten werde eine Versöhnung möglich sein.
Welche Szenarien es für die Zukunft gibt? Viele Szenanieren seien möglich. Welche, das hätte den Rahmen der Abends gesprengt.