Georgien: Das Schweigen des Presslufthammers

vom August 2008
Der Krieg hat die Bevölkerung aus dem Traum vom ewigen Wirtschaftswachstum und neuem Wohlstand gerissen.
VON BIRGIT WETZEL, TIFLIS

Die Wirtschaft in Georgien war auf Erfolgskurs. Der kleine Südkaukasus-Staat, ein Vielvölkerstaat zwischen Meer und hohen Bergen mit nur knapp fünf Millionen Einwohnern und einer Fläche etwa so groß wie Bayern, wuchs äußerst dynamisch mit zuletzt 12,5 Prozent im Jahr 2007. Vor jedem öffentlichen Gebäude weht bis heute die Fahne der EU. Eines Tages zur Europäischen Union gehören – das wünschen sich viele Georgier. Die EU steht hier für Wohlstand und Stabilität.

Die Regierung unter Präsident Saakaschwili, die vor fünf Jahren durch die friedliche Rosenrevolution den früheren Präsidenten Schewardnadse ablöste, will seither zumindest den Weg zum Wohlstand in der ehemaligen GUS-Republik ebnen. Dafür ordnete man das einst chaotische, überwiegend zentral gesteuerte Wirtschaftssystem komplett neu. „Wir betrachten es als sehr wichtig, eine passende, attraktive und konkurrenzfähige Atmosphäre für die Privatwirtschaft zu kreieren“, sagt die stellvertretende Wirtschaftsministerin Tamar Kowsiridse. „Alle Initiativen der Regierung sind dahin gerichtet, es sehr einfach zu machen für die Privatwirtschaft. Der Staat hat die Meinung, wir sollten uns zurückziehen von wirtschaftlichen Prozessen und nur da eingreifen, wo es wirklich nötig ist.“

Ein Fünf-Punkte-Programm setzte die Schwerpunkte: Kampf gegen Armut, internationale Wirtschaftskontakte, Privatisierung, Investitionen und Lösung regionaler Konflikte. Wettbewerb ist das Leitmotiv für zahlreiche Veränderungen in allen Lebensbereichen. Wegen dieses Programms platzierte die Weltbank Georgien auf Rang eins ihres Reformer-Rankings.

Wie erfolgreich die Regierung damit ist, zeigt sich bis zum Kriegsbeginn vor allem in der Hauptstadt Tiflis. Lastwagen in altsozialistischem Türkis rumpelten und knatterten über die Straßen. Sogar am Sonntag, an dem im tief christlichen Georgien die Kirchen sich von früh bis spät immer wieder füllen, stampften die Presslufthämmer und kreisten die Kräne. Stück für Stück verschwanden die Löcher in den Straßen. Statt grauer Fassaden säumen farbige Häuser die Seiten der Hauptstraße Rustawelli. Schilder ordneten den Verkehr, wodurch immer mehr Autos das Zentrum durchqueren konnten. Die noch bis vor drei Jahren überall spürbare Gelassenheit und zeitlose Ruhe schien vorbei. Die Banken hatten kräftig zu tun. Mit traumhaften Wachstumsraten von mehr als 50 Prozent im Jahr entwickelte sich die Kreditvergabe prächtig. Und da fast jedem Kredit eine Investition in die Zukunft des Landes folgte, rechneten die Georgier mit einem anhaltenden Wachstumsschub.

Und nun die Stille, die auch seit dem Waffenstillstand anhält. Menschen kampieren in Gassen und Vorgärten. Russische Panzer versperren die wichtigsten Straßen. Und dennoch hören die jungen Georgier nicht auf, an ihre neue Chance zu glauben.

Viele wollen ein eigenes Unternehmen gründen. Einer von ihnen ist Schota. Er hatte beobachtet, wie erfolgreich Freunde ein neues Restaurant betrieben, ging zur Bank, nahm einen Kredit in Anspruch und stellte einen Imbiss an einer der zentralen Bushaltestellen auf. Das Geschäft ging gut, sagt er, und als Nächstes wollte er einen Kiosk am Schwarzen Meer eröffnen. Wenige Tage war er in seinem neuen Laden, als der Krieg ausbrach. Auf dem Rückweg zu seiner Familie, einer Autofahrt von fünf Stunden über die einzige West-Ost-Durchgangsstraße, geriet er in die Bombenangriffe in Gori. Er schaffte es zurück nach Tiflis, wo das Leben heute ein anderes ist.

Das Restaurant der Freunde speist nun täglich rund 500 Flüchtlinge, die aus allen Landesteilen in die Hauptstadt gekommen sind. Dort fühlen sie sich sicher, auch wenn keiner weiß, wie lange noch. In Zeltstädten warten die meisten am Stadtrand auf den Rückzug der russischen Besatzer.

Lehrerin Tamar unterrichtet seit vielen Jahren an einer staatlichen Schule in Tiflis. Sie spricht perfekt Russisch und Deutsch. Ihr Lehrerinnengehalt, ebenso wie das aller vom Staat Angestellten, wurde in den letzten Jahren so erhöht, dass sie nicht in zwei oder drei Stellen arbeiten muss, um die Familie zu ernähren. Die Schule sollte in zwei Wochen wieder anfangen, aber alle Schulen und Kindergärten sind jetzt überfüllt mit Flüchtlingen.

In den Universitäten hat der Wandel der letzten Jahre vieles verändert. Jeder, der dort arbeitet oder studiert, muss nachweisen, dass er die nötige Vorbildung hat. Damit sollte die Korruption auch in diesem Bereich beendet werden. Kaum waren die ersten Prüfungen gelaufen, verschwand ein Teil der Professoren, weil ihre Kenntnisse nicht den Anforderungen entsprachen. Aus alten Zeiten hatten sie noch staatliche Stellen. Studenten haben sich an die neuen Eingangsprüfungen gewöhnt.

Die Alten im Land sehen viele Veränderungen mit Skepsis. Zwar bekommen sie nun regelmäßig eine Rente, aber wirklich auskömmlich ist die noch nicht. Am härtesten von den Veränderungen betroffen waren alle, die keine Veränderung mehr wagen wollten. Wer nie gelernt hat, sich eine neue Arbeit selbst zu suchen, der blieb oft arbeitslos. „Warum geben sie mir keine richtige Arbeit?“, schimpft ein Schneider, der im Hinterhof eines alten Hauses hinter dem Parlament einer Kundin neue Kleider überreicht und damit ein paar Lari, so heißt die Landeswährung, verdient. „Für alles müssen wir jetzt zahlen: Strom, Gas, Wasser.“

Gerüchte machen die Runde, Georgien werde ausverkauft: Angeblich erwerben Chinesen die Wälder und Ländereien, Amerikaner vergrößern ihren Einfluss im Finanzsektor, und die Russen weiten auch ohne Militär ihren Einfluss in den Konfliktzonen Abchasien und Südossetien aus.

Doch selbst Kritiker geben zu, dass der Wandel vor dem Krieg fast allen ein besseres Leben beschert hatte. „Wir wollen in die Nato und in die EU“, heißt es auch in den Tagen nach dem Krieg in der Bevölkerung. Doch erst einmal müssen die russischen Besatzer das Land verlassen.

© Rheinischer Merkur Nr. 34, 21.08.2008

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